KOMMENTAR DER REGISSEURIN

möchte eine vielbesprochene Figur von einer noch unbekannten Seite beleuchten. Der Film stellt die persönlichen Dokumente und Fotos aus dem Privatleben eines der hochrangigsten Nationalsozialisten und seiner Familie der Wirklichkeit einer Zeit gegenüber, deren Schrecken er aus dem Hintergrund wesentlich mitgestaltete. Dem Publikum wird so ein persönlicher Zugang zu der Gedankenwelt des Privatmanns Heinrich Himmler ermöglicht, zu den Erfahrungen, Ideen und Emotionen, die ihn zu dem gnadenlosen "Architekten der Holocaust" werden liessen. Da der Film aus der Perspektive Himmlers und seiner Familie – zunächst der Eltern und Brüder, später von Ehefrau, Tochter und Geliebter – erzählt wird, sieht der Zuschauer die Realität der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkriegs erst durch die Augen einer gewöhnlichen Mittelschichts-Familie, später durch die der privilegierten Familie eines hochrangigen Nazis. Das cinematografische Erleben des Publikums wird entlang Himmlers subjektiver Wahrnehmung der Welt und seiner Rezeption der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse gelenkt. Es wird gezeigt, wie Brutalität und Schrecken aus scheinbarer Normalität erwachsen können. Der Zuschauer wird in das Unbehagen versetzt, zwischen der Nähe zu einem als Privatperson erfahrbaren Menschen und dem Wissen um die entsetzlichen Verbrechen, die auf deren Anordnung geschehen sind, hin und hergerissen zu sein.

 

Mit einem Drehbuch, das auf sorgfaltig ausgewählten Dokumenten aus Himmlers Leben beruht, die mit Off-Stimmen von Schauspielern und Archiv-Film-Material zum Leben erweckt werden, mischt DER ANSTÄNDIGE dokumentarisches mit fiktionalem und schafft damit eine neue "post-dokumentarische" Form. Diese erlaubt es dem Zuschauer, mit-zu-denken" und "mit-zu-fühlen", anstatt nur zu konsumieren. Der Film versucht, die innerste psycho-kulturelle Wahrheit des Bösen zu erforschen. Die fiktionalen Anleihen sind dabei ebenso wahr wie die grausame Realität, die damit festgehalten wird.

 

Der Film ist ein Appell für ein Kino des beharrlichen Hinterfragens anstelle des Präsentierens vorgefertigter Meinungen, des klärenden Abstandes anstatt zwingender Nähe, der Provokation und des Dialogs im Gegensatz zu einer Kultur des Konsums und Konsenses. Obwohl es keine Anleitung gibt, welche Perspektive das Publikum einnehmen und welche Urteile es treffen sollte, projiziert der Film einen moralischen Referenzrahmen auch für unsere Zeit: Eine so vieldimensionale, kritische Perspektive wie die des Publikums mahnt zu Empathie und individueller Verantwortung.

 

 

DIE REGISSEURIN VANESSA LAPA 

VANESSA LAPA ist in Belgien geboren und aufgewachsen und lebt seit 1995 in Israel. Als anerkannte Journalistin hat sie über einhundert Reportagen für das israelische Fernsehen gedreht und produziert. Ihr Cinéma-vérité-Dokumentarfilm OLMERT – CITIZEN NUMBER 1 (2009) begleitete den damaligen israelischen Präsidenten, der bereits seinen Rücktritt angekündigt hatte, auf politischen Veranstaltungen, aber auch in seinem Privatleben. Für den Dokumentarfilm STRADDLING THE FENCE (2003) des New-York-Times Korrespondenten Thomas Friedman war VANESSA LAPA als Koproduzentin und Redakteurin auf israelischer Seite beteiligt. 2007 gründete sie die unabhängige Dokumentarfilm-Produktionsfirma Realworks Ltd., die in Tel Aviv ansässig ist.

 

 

© Realworks Ltd. 2015